
Die Anspannung ist spürbar. Der 1. FC Kaiserslautern steht mit einem Bein in der 3. Liga, nun soll Stefan Kuntz wie der Deus ex Machina in der griechischen Tragödie den logischen Fortgang der Geschichte stoppen. Rund 50 Journalisten harren am 8. April der Ankunft des zum Retter erkorenen Stürmeridols, das fast 13 Jahre nach seinem Abschied als Spieler als Vorstandsvorsitzender auf den Betzenberg zurückkehrt. Statt im Trikot nun im feinen Zwirn, doch was unter der edlen Hülle pocht, stellt Kuntz medienwirksam mit der Aktion »Herzblut« vor, die plakativ als Bühnenbild dieser Vorstellung gewählt wurde. Sie beschert dem Verein auf einen Schlag mehr positive Schlagzeilen, als er in zwei Jahren zuvor produziert hat. Dabei scheint der Abstieg sicher, der wirtschaftliche Ruin ebenso. »Es gibt viele Baustellen«, bekennt Kuntz bei seinem Amtsantritt. Die Arbeit beginnt.
Der erste Heimsieg der Rückrunde gegen Augsburg hält die Hoffnung am Leben. »Ihr könnt in wenigen Wochen zu Helden werden«, verdeutlicht der ehemalige Torjäger den verunsicherten Spieler. »Ich habe ihnen die Verantwortung genommen, den ganzen Verein retten zu müssen. Sie sollen sich nur auf ihren Job als Fußballer konzentrieren«, nimmt der neue Chef dem jungen Kader die entscheidende Last. »Wenn man keine Hoffnung mehr hat, gibt es irgendwo ein Licht. Unser Licht heißt Stefan Kuntz. Er hat uns den Glauben an uns zurückgegeben«, beschreibt Trainer Milan ŠaŠić später pathetisch, dass die pure Präsenz des Europameisters von 1996 den Stimmungswandel herbeigeführt habe. Am 20. April beschließt der Kaiserslauterer Stadtrat die Reduktion der Stadionmiete von 3,2 auf 1,8 Millionen Euro. Die drohende Insolvenz ist abgewendet. Die DFL erteilt die Lizenz unter Auflagen. Die Mannschaft legt nach, dreht das Spiel gegen Aachen und nähert sich der Nichtabstiegszone bis auf zwei Punkte.
Am 5. Mai in der Klasse 4b der Wilenstein Grundschule in Trippstadt. Die Kinder hatten Plakate gemalt, um dem 1. FCK im Abstiegskampf die Daumen zu drücken. Nun betritt Stefan Kuntz das Klassenzimmer und bedankt sich persönlich bei den Kleinen für ihre Unterstützung. Statt einer Mathe- folgte eine Autogrammstunde. Gerechnet wird zu diesem Zeitpunkt in der Pfalz nur noch anhand der Zweitligatabelle. Für das Spiel gegen St. Pauli erhalten die Kids Freikarten. Weitere Grundschulen schließen sich binnen zwei Tagen an und bejubeln einen 2:0‑Erfolg.
Der neue Vorstandsvorsitzende ist omnipräsent. Ob Kicker oder Kinder, ob Kaschmir- oder Kuttenfan – Kuntz kann mit allen. »Ehrlichkeit und Offenheit«, verspricht er. Das kommt an. Je nach Situation bedient Kuntz sein Publikum: Gerne charmant, wenn nötig aber auch energisch. Geschliffene Sätze für die Journalisten, mitunter Mundart für die Fans. Er hat das Gespür für die gewünschte Botschaft und verfügt über die rhetorischen Mittel, diese an den Mann zu bringen. Am 18. Mai schießen Josh Simpson und Marcel Ziemer den 1. FCK gegen den 1. FC Köln zum Klassenerhalt. Spätestens als nach dem ersten Tor der Regen einsetzt, ist aus dem Trauerspiel ein Rührstück geworden. Keiner kommt umhin, in dem nach ihm benannten Stadion an Fritz Walter zu denken. Tränen fließen. Gestandene Männer werden zu Kindern. Unten auf dem Rasen umarmt Stefan Kuntz Milan ŠaŠić, den zweiten Pfeiler, auf dem dieses Wunder gründet.
Doch der Klassenerhalt ist nur der erste Schritt aus der Misere. Hinter den Kulissen beginnen die Aufräumarbeiten. Jetzt zeigt der große Sympathieträger auch Härte. Von allen auslaufenden Verträgen wird im Laufe des Sommers nur der von Marcel Ziemer verlängert. Enttäuschungen wie Patrice Bernier, VictoraŞ Iacob oder Emeka Opara wird der Abschied nahegelegt. Der FCK muss Kosten einsparen, um die Lizenzauflagen zu erfüllen. Die Transferbemühungen sind ein zähes Ringen zwischen wirtschaftlichen Zwängen und sportlichen Ambitionen. Nach und nach wird der gesamte Verein nach den Vorstellungen der neuen Gallionsfigur umgestaltet. Von zwischenzeitlich fünf Vorstandsmitgliedern bleibt nur Johannes Ohlinger als Finanzfachmann an Kuntz’ Seite übrig. Mit Milan ŠaŠić als Trainer und seinem Intimus Frank Lelle als Nachwuchschef arbeiten alte Weggefährten an den sportlichen Schaltstellen. Im Herbst wird auch der Aufsichtsrat neu gewählt.
Kuntz legt Wert darauf, dass der Verein keine One-Man-Show sei, aber er verleiht dem gesamten Prozess Gesicht und Stimme. Obwohl er viel Macht auf sich vereint, ist das nach den chaotischen Verhältnissen der jüngsten Vergangenheit heilsam – sowohl für das Innenleben als auch die Außendarstellung des Vereins. Das Ziel seiner auf fünf Jahre fixierten Tätigkeit bleibt der Aufstieg. Kurzfristig gelten moderatere Vorgaben. Kuntz kann sich diesen Realismus erlauben, weil er das Vertrauen der Leute genießt. Er hat es sich als Spieler und Funktionär erworben, jetzt färbt es auf den gesamten Verein ab. »Seit Wochen ist zu spüren, dass die alte Verbundenheit zwischen der Region und dem 1. FCK wieder auflebt. Darauf lässt sich aufbauen«, würdigt Ministerpräsident Kurt Beck die Verdienste des Hoffnungsträgers. Es scheint als habe man in Kaiserslautern eine Tugend neu entdeckt: der Tradition gerecht zu werden, ohne die Realität aus den Augen zu verlieren.
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